Ende 2018 verschlug es das „Verknüpfungen“-Team weit in den Osten Brandenburgs, in die Kleinstadt Guben direkt an der polnischen Grenze – in den Ort, in dem 1999 der Algerier Farid Gouendoul von Neonazis in den Tod gehetzt wurde. Doch auch heute noch, fast zwanzig Jahre später, sind Rechtsextreme in Guben aktiv, demonstrieren beispielsweise gegen die Einrichtung eines Aslybwerber_innenheims und greifen Unterkünfte von Geflüchteten oder auch Andersdenkende an. Und auch das Anwachsen rechtspopulistischer Einstellungen machte vor Guben nicht halt. So erzielte die Alternative für Deutschland (AfD) in Guben bei der Bundestagswahl im September 2017 ein überdurchschnittlich hohes Ergebnis.
Eine Einrichtung in Guben, die sich mit dieser Situation nicht abfinden will, ist die Europaschule „Marie & Pierre Curie“, die seit 2016 den Titel „Schule OHNE Rassimus – Schule MIT Courage“ trägt. Die dreizügige Oberschule mit dem Schwerpunkt Praxislernen ist eine Integrationsschule, in der etwa 270 Schüler_innen mit und ohne besonderen Unterstützungsbedarf gemeinsam lernen. Die Schulleitung freute sich über das Angebot der BildungsBausteine, in einem mehrtägigen medienpädagogischen Projekt Schüler_innen für unterschiedliche Erscheinungsformen von Antisemitismus und Rassismus sowie deren Verflechtungen zu sensibilisieren und gemeinsam mit ihnen Handlungsalternativen zu entwickeln.
Im November 2018 konnte es dann endlich losgehen. Eine 9. Klasse war von der Schule für das Projekt ausgewählt worden. Anstelle des normalen Unterrichts durfte sie über 6 Tage hinweg andere, eher dialogisch angelegte Lernmethoden kennenlernen und gemeinsam Kurzfilme produzieren. Vom dreiköpfigen Referent_innen-Team wurden die 27 Schüler_innen zunächst in drei Kleingruppen aufgeteilt, in denen sie die meiste Zeit zusammenarbeiteten – eine Voraussetzung für die Filmproduktion in den letzten Seminartagen und gleichzeitig eine gute Möglichkeit, um in einem etwas geschützteren Rahmen intensiv miteinander zu lernen und zu diskutieren. Zudem machte es die Kleingruppen-Arbeit den Referent_innen leichter, flexibel auf die Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmenden einzugehen und die Inhalte und Methoden prozessorientiert immer wieder an die akuten Erfordernisse anzupassen.
In den Kleingruppen beschäftigten sich die Schüler_innen mithilfe von kreativen, möglichst spielerischen Methoden sowie niedrigschwelligen Materialien ohne viel Text (darunter mehrere anregende Kurzfilme) mit unterschiedlichen Aspekten des Themenfelds. Eine zentrale Rolle spielte die biografische Methode „Wer bin ich?“ aus dem „Verknüpfungen“-Projekt, deren Module auf mehrere Tage verteilt wurden. Die Teilnehmenden lernten darin die Erfahrungen und Perspektiven von drei (ehemals) in Brandenburg und Ost-Berlin lebenden Menschen kennen, die selbst von Antisemitismus und Rassismus betroffen sind und sich auf unterschiedliche Art und Weise dagegen engagieren: einer jüdischen Journalistin und einem Sinto-Musiker aus Ost-Berlin sowie einem ehemaligen angolanischen Vertragsarbeiter, der Brandenburg einige Jahre nach der Wende wegen des zunehmenden Rechtsextremismus verlassen hat. Den Jugendlichen gingen ihre Erlebnisse teilweise sehr nahe, und sie verstanden, wie schlimm selbst unbedachte, nicht „böse“ gemeinte Äußerungen für die Betroffenen sein können.
Deutlich wurde bei der Bearbeitung dieser drei Biografien, dass die Jugendlichen kaum Wissen über die DDR, ihre eigene (tradierte) Prägung durch deren System und die Folgen seines Zusammenbruchs haben. Von der tödlichen Hetzjagd in Guben hatten manche von ihnen zwar schon einmal gehört, wussten jedoch keinerlei Einzelheiten darüber – Anlass für einige Teilnehmenden, den Erwachsenen zuhause und auf der Straße Fragen zu stellen. Ein Schüler befragte zunächst Familienangehörige nach dem Leben in der DDR und nach dem damaligen Antisemitismus und Rassismus. Am nächsten Tag konnte er seinen Mitschüler_innen unter anderem berichten, dass ein Familienmitglied an dem Abend, an dem Farid Gouendoul sterben musste, zuvor in der gleichen Kneipe gewesen war wie er.
Die Kleingruppe beschloss, für ihren Kurzfilm auf der Straße Menschen zu diesen Themen zu interviewen. Ihr Film mit dem (ironischen) Titel „Gibt es in Algerien Glas?“ brachte interessante Erkenntnisse über den Umgang von Gubener_innen mit der jüngeren Geschichte, aber auch über deren Erfahrungen als Ostdeutsche zu Tage. Nachdenkliche Töne einer älteren Gubenerin wurden konterkariert durch die erschreckenden Äußerungen eines älteren Mannes, der nicht nur den vermeintlichen Reichtum der jüdischen Gubener_innen für deren Verfolgung mitverantwortlich macht, sondern allen Ernstes darüber spekuliert, ob Farid Gouendoul sich auf seiner panischen Flucht vor den ihn verfolgenden Neonazis wohl nur deshalb an einer Glastür seine tödlichen Verletzungen zugezogen hätte, weil es in Algerien möglicherweise kein Glas geben würde… Bei der abschließenden Präsentation der Kurzfilme in der Aula vor den Klassensprecher_innen der Schule sowie einem Teil des Lehrer_innen-Kollegiums hinterließ der Film dann auch – trotz des tosenden Applaus – viele nachdenkliche Gesichter.
Nichtsdestotrotz: Sowohl die Schüler_innen und die Lehrkräfte als auch wir fänden es toll, wenn sich im nächsten (Schul-)Jahr wieder ein gemeinsames Projekt realisieren lassen würde!
Die BildungsBausteine und die Europa-Schule Guben danken der Stiftung "Großes Waisenhaus zu Potsdam" ganz herzlich für die Förderung des Projekt!